BOSNIEN / MIGRATION: Fegefeuer für Unerwünschte

von Ines Tanović-Sijerčić, Kompas, Sarajevo, 08.05.2024, Veröffentlicht in Archipel 336

Auf der Balkanroute befinden sich erneut sehr viele Migrant·innen in einer prekären Situation, während sich die öffentliche Aufmerksamkeit in einem Konkurrenzkampf des Schreckens anderen Notsituationen zugewandt hat. Jedoch die Opfer der gestrigen und heutigen Kriege und Krisen treffen wir hier – unterwegs nach Europa, in der Hoffnung, endlich in Sicherheit leben zu können.

Das Jahr 2023 war geprägt von einem kontinuierlichen Anstieg der Anzahl von Migrant·innen auf der Balkanroute, die in den offiziellen Transit-Aufnahmezentren in Bosnien und Herzegowina registriert wurden. Gleichzeitig handelte es sich um die höchste Zahl registrierter Ankünfte im Jahr – mehr als 34.000 – seit dem Jahr 2017. Damals hatte Bosnien mit der offiziellen Registrierung von Menschen auf der Balkanroute begonnen. Obwohl das Interesse und die Unterstützung für die Migrant·innen auf der Balkanroute seit Beginn des Krieges in der Ukraine deutlich zurückgegangen ist, erweist sich die Route als aktiver denn je – selbst im Vergleich zu 2019 oder 2020, die oft als Spitzenjahre für die Ankunft von geflüchteten Menschen in Bosnien angesehen werden. Natürlich müssen wir davon ausgehen, dass die Gesamtzahl der Menschen, die das Land durchquert haben, höher liegt, da sich viele von ihnen nie in einem der Transit-Aufnahmezentren registrieren lassen. Deshalb bleibt die genaue Zahl unbekannt. Die Haupteinreisepunkte nach Bosnien sind seit langem dieselben: die Grenzgebiete zu Serbien im Osten und zu Montenegro im Südosten. Die Hauptausreisepunkte in Richtung Kroatien und damit in die EU ändern sich jedoch öfters – wie vor nicht allzu langer Zeit von der nordwestlichen Grenze (Kanton Una-Sana mit den Städten Bihać und Kladuša) hin zum nördlichen Gebiet des Flusses Sava und den südlichen Grenzgebieten.

Derzeit gibt es vier offizielle Transit-Aufnahmezentren im Land, zwei davon in Sarajevo (das Blažuj-Lager für alleinstehende Männer und das Ušivak-Lager für Familien und Minderjährige) sowie zwei in Bihać (das Lipa-Lager für alleinstehende Männer und das Borići-Lager für Familien und Minderjährige). Mit Ausnahme des Lipa-Lagers, das ausschliesslich vom Staat betrieben wird, besteht bei den übrigen drei Lagern eine Zusammenarbeit zwischen dem staatlichen Ausländer·innendienst und der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Diese drei Zentren befinden sich momentan in einem Übergangsprozess, bis sie vollständig vom Staat übernommen werden. Es ist jedoch nicht klar, ob dieser Übergang bis zum Ende dieses Jahres stattfinden wird oder nicht. Was die Herkunftsländer betrifft, so kommen die meisten der durch Bosnien reisenden Migrant·innen aus Afghanistan, Syrien, Marokko, Iran, Algerien, der Türkei, Pakistan usw., wobei etwa 80 Prozent von ihnen alleinstehende Männer sind, gefolgt von unbegleiteten Minderjährigen (ca. 10 Prozent), Kindern in Familien (4 Prozent), Erwachsenen in Familien (4 Prozent) und alleinstehenden Frauen (ca. 2 Prozent).

Kein Ort für Schutzsuchende

Das vergangene Jahr brachte viele Veränderungen und Verschiebungen vor Ort mit sich. Eine der bedeutendsten Veränderungen fand Anfang 2023 statt, als Kroatien dem Schengen-Raum beitrat. In den darauffolgenden Monaten begann die kroatische Polizei mit der Ausstellung von sogenannten Drei-Tage - und Sieben-Tage-Papieren. Das bedeutete, dass den Personen, die diese Papiere erhielten, drei bzw. sieben Tage Zeit gelassen wurde, um Kroatien und den europäischen Wirtschaftsraum zu verlassen. Doch für viele war dies eine Möglichkeit, Kroatien zu durchqueren, ohne Angst haben zu müssen, nach Bosnien zurückgeschoben zu werden. So konnten sie für ihre Durchreise einen Bus oder Zug nehmen, was vorher fast unmöglich war. Obwohl es weiterhin illegale Rückschiebungen gab, war ihre Zahl deutlich geringer. Nach einer relativ ruhigen Phase in der ersten Jahreshälfte 2023 nahmen die Pushbacks jedoch seit dem Sommer und vor allem im Herbst 2023 wieder zu – sowohl an der Zahl als auch an Brutalität.

Eine weitere grosse Veränderung der Situation vor Ort begann Anfang November 2023, als die serbischen Behörden damit begannen, das nördliche Gebiet (an der Grenze zu Ungarn und in den Städten Sombor und Subotica) von den sich dort aufhaltenden Migrant·innen zu räumen. Die systematische Kampagne zur Zurückdrängung der Menschen in den Süden Serbiens und in die Region Presevo sowie die Schliessung der offiziellen Lager in Nordserbien führten dazu, dass mehr Schutzsuchende nach Bosnien kamen und die höchste Anzahl von Neuankömmlingen vom ganzen Jahr verzeichnet wurde. In dieser Zeit waren die Lager in Sarajevo und Bihać beinahe voll ausgelastet. Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnten wir eine deutlich höhere Zahl von Syrern und Syrerinnen feststellen, die damit die erste Nationalität bei den Ankünften in den Lagern waren, gefolgt von Afghanistan und Marokko. Ein weiterer Grund für die höhere Zahl von geflüchteten Menschen in Bosnien Ende 2023 waren die anhaltenden Pushbacks aus Kroatien, die sich in den letzten Monaten wieder verstärkt haben. Die letzten Berichte über die Brutalität der kroatischen Polizei erinnern uns an diejenigen, die wir in der Vergangenheit gehört und gesehen haben: Schläge, Ausziehen von Kleidern und Schuhen, Konfiszierung von Eigentum (Geld, Telefone und andere Gegenstände) sowie andere demütigende und folterähnliche Methoden, für welche die kroatische Polizei inzwischen bekannt ist. Immer mehr Geflüchtete berichten, dass sie jeweils in einem von den drei offiziellen Gefängnislagern in Kroatien festgehalten wurden – Ježevo, Trilj und Tovarnik – aber auch an anderen Orten, die sie nicht näher lokalisieren konnten.

Gleichzeitig führt Kroatien Migrant·innen über so genannte offizielle «Rückübernahmen» nach Bosnien zurück. Letztes Jahr sorgten diese «Rückübernahmen» für grosses öffentliches und mediales Aufsehen (im März, April und Mai 2023). Nachher sah es danach aus, als ob sich die Lage beruhigt hätte, und die Angelegenheit verschwand aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Rücküberstellungen erfolgten jedoch weiterhin über die offiziellen Grenzübergänge im Norden und Nordwesten des Landes, wobei jede Woche ein bis zwei Busse mit Geflüchteten von Kroatien nach Bosnien zurückgeschickt wurden. Nach Angaben des Sicherheitsministeriums von Bosnien und Herzegowina nahm das Land im Jahr 2022 im Rahmen des Rückübernahmeabkommens mit Kroatien 836 Drittstaatsangehörige auf. Die offiziellen Daten für 2023 liegen noch nicht vor, aber es ist davon auszugehen, dass die Zahl noch viel höher liegen wird.

Rückgang der Hilfe

In der Öffentlichkeit und bei den wichtigsten Akteuren (staatliche Institutionen, Ministerien usw.) in Bosnien ist das Thema Migration fast völlig verschwunden. Dies entspricht einer allgemeinen Verlagerung der Aufmerksamkeit. Das Jahr 2023 war durch einen Rückgang der Unterstützung gekennzeichnet – in Form von materieller und finanzieller Hilfe –, aber auch durch einen Rückgang des allgemeinen Interesses an der Balkanroute aus mehreren Gründen: Krieg in der Ukraine, Krieg in Gaza, dadurch die ständige Verschiebung der Aufmerksamkeit von einer Notsituation zur anderen. Dies führte auch dazu, dass es inzwischen weniger Gruppen vor Ort gibt, die ausserhalb der offiziellen Lager Unterstützung leisten, und auch die Zahl der Freiwilligen ist gesunken.

Unsere Hilfsinitiative Kompas 0711 in Sarajevo hatte das ganze Jahr über Probleme wegen des Mangels an «Non Food Items» (Kleider, Schuhe, Hygieneartikel usw.), mit denen wir jeweils die Durchreisenden in der Region unterstützen. Im gesamten Jahr 2023 erhielt Kompas nur vier Lastwagenlieferungen von «Non Food Items», die den Gesamtbedarf der Menschen, die zu uns in den «Freeshop» kamen, nicht decken konnten. Mehr Lieferungen bedeuten natürlich, dass wir weniger Geld für den Kauf von Material ausgeben müssten. Mit den Spendengeldern, die wir sonst bekommen, schaffen wir nur ein Minimum. Trotzdem bleiben wir standhaft und hoffnungsvoll, dass wir unsere Arbeit fortsetzen können, aber mit dem Anstieg der Hilfesuchenden stehen wir vor sehr schwierigen Zeiten. In den ersten drei Monaten des Jahres 2024 haben wir einen Lastwagen mit Kleidung und anderen lebensnotwendigen Gütern aus Italien erhalten, und wir hoffen, in den nächsten Wochen weitere Lieferungen zu bekommen. Ein Transport aus der Schweiz mit rund drei Tonnen Material wird in Kürze bei uns eintreffen. Die Sammlung war im März und April von unserem Freund Danilo Gay mit dem Verein L’Escale in Saint Prex und vom Europäischen Bürger:innen Forum (EBF) in Basel organisiert worden. Vorhersagen für die kommenden Monate, wie es hier vor Ort weitergehen wird, sind angesichts der unbeständigen Lage sehr unsicher .

EU-Beitritt nur über Frontex

Im März dieses Jahres hat Bosnien grünes Licht für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen erhalten. Um diese zu ermöglichen, muss Bosnien u. a. die Verhandlungen über ein Abkommen mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex wieder aufnehmen. Der Abschluss eines solchen Abkommens gilt als eine der wichtigsten Verpflichtungen für den «bosnischen Weg nach Europa». Der letzte Versuch, eine Übereinkunft mit Frontex zu schliessen, scheiterte 2018, und bis heute ist Bosnien das einzige Land auf dem westlichen Balkan, das kein Abkommen mit der Agentur unterzeichnet hat. Seit 2019, als Frontex seine erste Operation in einem Nicht-EU-Land startete, wurden rund 500 Beamte in der Balkanregion eingesetzt. Es gibt gemeinsame Operationen an den EU-Aussengrenzen mit Kroatien, Albanien, Nordmazedonien und Serbien sowie über das Abkommen mit Montenegro, das im Juli 2020 in Kraft trat. Gleichzeitig hat die EU einen neuen Asyl- und Migrationspakt verabschiedet, der nicht nur innerhalb der EU-Grenzen, sondern wie immer auch an allen Aussengrenzen der EU grosse Auswirkungen haben wird. Es war klar, dass das neue EU-Abkommen denjenigen, die vor Kriegen, Katastrophen und Diktaturen Schutz suchen, nur noch mehr Leid bringen wird. Denn die Reformen bedeuten weniger Schutz und mehr Menschenrechtsverletzungen, welche die EU allerdings schon seit Jahren an ihren Aussengrenzen vom Balkan bis zur Türkei und Nordafrika praktiziert, u.a. illegale und gewalttätige Zurückweisungen, willkürliche Inhaftierungen und diskriminierende Polizeiarbeit. Der neue Pakt sieht unter anderem die Einführung der so genannten neuen Schnellverfahren an den EU-Aussengrenzen vor, bei denen Menschen, die angeblich nicht die Voraussetzungen für Asyl erfüllen, unverzüglich in ihre Herkunftsländer oder sogenannte sichere Drittstaaten zurückgeschickt werden. Dies wird Bosnien und die anderen Westbalkan-Länder, die ausserhalb der EU stehen, mit Sicherheit in eine noch schwierigere Lage versetzen. Sie könnten zu Stationen von einer Art «Fegefeuer für die Unerwünschten» werden – ohne jede Möglichkeit, die von der EU beschlossenen Massnahmen zu beeinflussen oder abzulehnen.

Ines Tanović-Sijerčić, Kompas, Sarajevo

  1. Kompas 071 ist ein gemeinnütziger Verein in Sarajevo, der ein Lokal für Migrant·innen betreibt. Hier können sie duschen, Wäsche waschen, Lebensmittel und Kleider bekommen und sich ausruhen. Kompas bietet auch Rechtshilfe. Die fünf Mitarbeitenden sind unermüdlich im Einsatz. Diese wertvolle Initiative wird regelmässig vom EBF finanziell unterstützt.