FRANKREICH: Der Prozess gegen France Télécom

von Isabelle Bourboulon, 07.01.2024, Veröffentlicht in Archipel 332

In Frankreich läuft zur Zeit der Film «Durch das Fenster oder durch die Tür» über den Prozess gegen das Unternehmen France Télécom. In den Jahren 2008 und 2009, kam es, aufgrund von Mobbing1 zu 35 Suiziden in den Betrieben. Im Mai 2013 existierte France Télécom nicht mehr – es war zu «Orange», einer vollständig privatisierten Multinationalen geworden. Wir baten Isabelle Bourboulon, die massgeblich an dem Film mitgearbeitet hat, um einen Artikel für Archipel über ihre Recherchen.

Das Wort Management kommt vom englischen Verb «to manage» (verwalten, leiten). Manche leiten es vom altfranzösischen «mesnage» ab, was im 18. Jahrhundert so viel bedeutete wie «einen Haushalt führen». Auch die Manege, Ort, an dem Pferde dressiert werden oder das italienische «maneggiare» (kontrollieren) werden als Ursprung angegeben. Bei France Télécom heisst das Wort so viel wie «aufräumen» (frz. faire le ménage). Um die Angestellten dazu zu bringen, von selbst zu gehen, um Lohn- und Gehaltsaufkommen radikal zu reduzieren (Ziel: 22.000 Angestellte weniger), wurden alle Mittel und Techniken des so genannten «modernen» Managements eingesetzt. Die Ereignisse, die sich über die Jahre 2006-2011 erstreckten, erreichten ihren Höhepunkt im Jahr 2009 in der so genannten «Selbstmordkrise».

Der Prozess kommt ins Rollen

Am 3. Juni 2019 werden endlich drei Fälle von Suizid und ein Suizidversuch vor Gericht aufgerollt, alle drei bei France Telecom zwischen dem 4. und dem 18. Mai 2008. Ghislaine Régnier, die Witwe von Jean-Marc Régnier, der sich in der Nacht vom 3. auf den 4. Mai 2008 erschossen hat, sagt als Zeugin aus: «Er liebte seine Arbeit, er ging gerne zu den Kunden und hatte einen guten Kontakt zu den Leuten. Er arbeitete mit grossem Einsatz (…). Er war offen und jovial.» Aber nach seinem letzten Informatikkurs sei er nicht mehr derselbe gewesen: «Er konnte nicht mehr. Er stand in der Nacht auf, um zu lernen. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde und hatte Angst, dass man sich über ihn lustig macht.» Jean-Marc Régnier arbeitete draussen an den Leitungen, er war körperliche Arbeit gewohnt. Mit dem Übergang von analog zu digital musste er eine Fortbildung machen, um seine Stelle nicht zu verlieren. Ghislaine Régnier spricht mit erstickter Stimme. Ein ergreifender Bericht über den dramatischen Absturz eines Menschen. Etwas später sagen die Angeklagten aus, weniger als drei Meter von ihr entfernt. Kein einziger von ihnen sieht sie an oder sagt etwas zu ihr (zum Beispiel so etwas wie eine Entschuldigung). Vielleicht ist es auch besser so, man hätte nämlich sonst sofort gespürt, wie falsch, wie künstlich das geklungen hätte.

Neu organisieren, eliminieren

Wie wird das gemacht? Mit einer Reihe von Massnahmen, welche die Consultingfirmen für Personalverwaltung – PricewaterhouseCoopers, McKinsey, Deloitte & Co… – empfehlen (und grosszügig entlöhnen) und die sich wiederum an den Konzepten der amerikanischen «business schools» orientieren. Frühere Vorgehensweisen werden in Frage gestellt, neue Ziele gesetzt, es wird gemessen, evaluiert, man verlangt von den Angestellten «pro-aktiv» zu sein, (d.h. bei France Télécom, dass die Angestellten selbst ihre Versetzungen vorschlagen sollen.). Als «nicht anpassungsfähig» eingestufte Individuen werden isoliert und hinausgedrängt. In manchen Unternehmen werden sie als «unangepasst und nicht anpassungsfähig» gekennzeichnet (ein extravagantes Konzept!). Bei France Télécom hiessen die Programme NExT, Act oder New Convergence, Performance… Diese Management-Massnahmen, die bei der Restrukturierung grosser Unternehmen angewendet werden, erstrecken sich über zwei oder drei Jahre: Die Profite wachsen und neue Methoden kommen kurz- und mittelfristig zum Einsatz. Die Bezeichnungen sind englisch, das klingt seriöser. Oft jagt eine Veränderung die andere, offiziell, um sich an die Entwicklung des Marktes und die neuen Technologien anzupassen: von «open space» zu Einzelbüros, von Zentralisierung zu Dezentralisierung, von Spezialisierung zum Multitasking usw. Die Management-Methoden entwickeln sich gemäss dem «Geist der Zeit» oder der Literatur, die beim Management gerade in Mode ist – im Rhythmus der Empfehlungen der Consultingfirmen.

«Zu nichts mehr nütze»

Jean-Marc Régnier litt, weil er mit den technologischen Neuerungen nicht Schritt halten konnte und fürchtete, in ein Callcenter abgeschoben zu werden. Er «wollte aber die Fortbildung machen, er interessierte sich vielleicht sogar ein bisschen zu viel dafür», sagt seine Witwe aus. Diejenigen, die am meisten leiden, sind die Angestellten, die sich am stärksten einsetzen, die in ihrer Arbeit einen Sinn und soziale Anerkennung finden wollen. Und wenn sie die vorgegebenen Ziele nicht erreichen, sehen sie das als Niederlage an («ich bin nicht auf der Höhe»). Zum Gefühl, unzulänglich zu sein, kommen Schuldgefühle, weil man den Anforderungen nicht entsprechen kann. Die Manager sagen: «Seien Sie autonom, seien Sie kreativ» und im selben Atemzug: «Respektieren Sie die Vorschriften!». Psycholog·innen wissen, dass paradoxe Anweisungen verrückt machen, und doch verlangt man von den Angestellten, in einer streng geregelten Welt autonom und in einer streng rationalen Welt kreativ zu sein. Die Arbeitskollektive sind aufgelöst und jede/r ist dem Unternehmen gegenüber auf sich selbst gestellt.

Die Einsamkeit ist es, die André Amelot, einen anderen Angestellten von France Télécom, getötet hat. Er hat sich am 19. Mai 2008, nach einem ersten erfolglosen Versuch im April, an seinem Wohnort aufgehängt. Er war Netzwerktechniker in Bernay und hatte jahrelang mit einem Partner zusammengearbeitet. Da sein Posten abgebaut werden sollte, war er plötzlich von seiner Arbeitsgemeinschaft abgeschnitten und musste alleine arbeitete. Seine Isolierung wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass in seinem Arbeitsbereich nun Informatik eingesetzt wurde, für die er nicht ausgebildet war. Daher rührte ein Gefühl der sozialen und beruflichen Herabsetzung und die Angst, in einem anderen Bereich eingesetzt zu werden, sowie der schmerzliche Eindruck, zu «nichts mehr nütze» zu sein. Eine Triebfeder der Arbeit ist aber genau der Kontakt zu anderen und die Hoffnung, daraus Stolz sowie das Gefühl der Nützlichkeit und Anerkennung zu bekommen. Dem Psychiater Christoph Dejours zufolge kommt Anerkennung von der Beurteilung durch die Hierarchie (Nützlichkeit) und durch die der Kollegen (Qualität, Leistung, Schönheit), die sich auf die Ausführung der Arbeit nach gewissen Regeln stützt und sich entscheidend auf die Identität des einzelnen auswirkt. Dies ist die Grundlage der mentalen Gesundheit. Der Bezug zur Arbeit kann sehr positive, aber auch sehr negative Auswirkungen haben: Identitätskrise und psychopathologische Dekompensation.

Zwei radikal entgegengesetzte Welten

Robert Perrin hat sich am 17. Mai 2008 an seinem Wohnort erschossen. Sein Bruder, Jean Perrin, erhob Privatanklage. Zusammen mit seiner Schwester Marie-Laure hat er sich dafür eingesetzt, dass Roberts Tod als Arbeitsunfall anerkannt wird. Im Zeugenstand fordert er, dass das Foto seines Bruders auf die Leinwand projiziert wird, ein glückliches, lächelndes Gesicht, denn, sagt er, «er war ja doch ein Mensch». Jean Perrin ist kämpferisch, er argumentiert, weist auf die Gefühllosigkeit der Angeklagten hin, er ist warmherzig, lebendig; die anderen verziehen keine Miene, als ob sie das alles nichts anginge: die Gegenüberstellung von zwei Welten, die absolut nichts voneinander wissen. «Mein Bruder fühlte sich wohl im Unternehmen und verstand nicht, warum er gehen sollte. Er wurde krank, als er erfuhr, dass die Arbeitszeiten geändert und seine Einheit versetzt würde. (…) Er war überaus gütig, hing an seiner Arbeit, er war bescheiden und immer gut gelaunt.»

Die Gerichtspräsidentin, Richterin Cécile Louis-Loyant, bemühte sich redlich, die Kette der Verantwortungen im Organigramm des Unternehmens zurückzuverfolgen. Auf welcher Ebene wurden Entscheidungen getroffen? Wer hat beschlossen, den «Nomadismus-Plan» anzuwenden (was für ein delikater Name!), der den Angestellten vorschreibt, ihre Anweisungen aus der Ferne zu erhalten und die Touren bei ihren Kund·innen zu rationalisieren? Die Antworten der Angeklagten sind vage, konfus. Der ehemalige Unternehmensleiter, Didier Lombard, erinnert sich an nichts. Totale Amnesie. Die Richterin scheint ihn gar nicht mehr befragen zu wollen, denn er verharrt in hartnäckigem Schweigen. Louis-Pierre Wenès, ehemalige Nummer zwei des Unternehmens, verfolgt eine durchtriebenere Verteidigungsstrategie: Er versucht, die Direktion zu entlasten, indem er die Verantwortung für die Entscheidungen, welche die Organisation betrafen, auf die lokalen Verantwortlichen abschiebt. Die Suizide seien auf lokaler Ebene behandelt worden, sagt er. Selbst Olivier Barberot, der ehemalige Leiter der Personalabteilung, sei erst ab Juli 2009 über die Selbstmorde informiert worden, als Michel Deparis sich umgebracht hatte: In seinem Abschiedsbrief prangert dieser die Überlastung, die ständige Dringlichkeit, die Desorganisation und das «Terrormanagement» an. «Ich bringe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom um. Das ist der einzige Grund.» Nach diesem Brief konnte das Unternehmen seine Verantwortung nicht mehr vertuschen. Die Verteidigungsstrategie, die darauf abzielte, einige regionale Verantwortliche zu Sündenböcken für die drastische Reduzierung der Belegschaften zu stempeln, hält vor Gericht nicht stand. Zum ersten Mal anerkennt das Urteil den Begriff «institutionalisiertes Mobbing» (franz. harcèlement moral institutionnel). Am 30. September 2022 bestätigt das Berufungsgericht das Urteil der ersten Instanz, auch wenn es die Strafen herabsetzt. Der ehemalige Unternehmensleiter Didier Lombard und die ehemalige Nummer zwei, Louis-Pierre Wenès, werden zu einem Jahr Gefängnis bedingt verurteilt.

France Télécom hat diese dramatische Selbstmordserie in Kauf genommen, um die Rentabilität des Unternehmens zu erhöhen. Höhere Umsätze, grösserer Profit und daher Intensivierung der Arbeit, denn nur sie schafft Wert. Die Fusion von Telekommunikation und Informatik hat die Diktatur der Echtzeit eingeleitet und fordert unmittelbare Reaktionen auf die Erfordernisse der Finanzmärkte.

Die Vereinigung Attac[2] beschäftigt sich unter anderem mit den verheerenden Auswirkungen eines Finanzkapitalismus, der das Ungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit stetig verschärft. Gleichzeitig ist die Hegemonie und der Einfluss des Marktes auf die Wirtschaft ein Grundstein der Management-Methoden, denn mehr Rentabilität heisst höhere Produktivität und das zieht den Druck auf die Arbeit nach sich.

Isabelle Bourboulon*

*Unabhängige Journalistin, Verfasserin von «Livre noir du management» (Bayard Editions, 2011) und «Soleil trompeur – ITER ou le fantasme de l’énergie illimitée (Éd. Les Petits matins, janvier 2020).

  1. Laut dem «Observatorium für Stress und erzwungene Mobilität», den Gewerkschaften und der Direktion.

  2. Attac ist eine globalisierungskritische Nichtregierungsorganisation und hat weltweit circa 90.000 Mitglieder und agiert in 50 Ländern, hauptsächlich jedoch in Europa.