TÜRKEI: Wo die Justiz Unrecht spricht

von Guido Ehrler u. Kemal Aytac, 07.12.2023, Veröffentlicht in Archipel 331

Die Teilnahme an der internationalen Delegation zum Prozess gegen Pınar Selek in Istanbul bot uns die Gelegenheit, mit türkischen Anwälten·innen in Kontakt zu kommen und mehr über deren Situation zu erfahren. Guido Ehrler, Anwalt in Basel und Mitglied der Delegation, führte ein Gespräch mit Kemal Aytac, Rechtsanwalt und Präsident der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer Istanbul.

Guido Ehrler: Herr Aytac, bitte erzählen Sie von sich und von Ihrer Arbeit. Kemal Aytac: Mein Name ist Kemal Aytac. Seit 38 Jahren übe ich meinen Beruf in Istanbul in einer eigenen Anwaltskanzlei aus. In der Familie gibt es 13 oder 14 Anwälte, meine beiden Töchter sind auch Anwältinnen. Ich bearbeite politische und gesellschaftliche Fragen in meinem Beruf. Was mit Menschenrechten zu tun hat, gehört ebenfalls zu meinem Tätigkeitsgebiet.

Gestern gab es vor dem Prozess gegen Pinar Selek eine kleine Demonstration von Anwält·innen vor dem Gerichtsgebäude in Caglayan/Istanbul. Warum? Diese Demonstration war nicht nur wegen Pinar Selek. Es war ein Beispiel für unsere Arbeit. Überall wo die Justiz Unrecht spricht, sind wir tätig. Wir waren z.B. auch bei den Demonstrationen der Samstagsmütter1 dabei. Bis jetzt haben wir über 130 Mahnwachen[2] organisiert, um gegen das Unrecht der Justiz zu protestieren. Das betraf zum Beispiel Femizide oder auch die Ereignisse in Diyarbakir[3].

Sie kümmern sich vor allem auch um Anwält·innen, die von der türkischen Justiz inhaftiert werden. Können Sie uns etwas darüber erzählen? Seit sechs Jahren machen wir für inhaftierte Anwälte Mahnwachen, egal ob sie mit uns in politischen Fragen übereinstimmen oder nicht. Wir machen nicht nur Mahnwachen und Pressekommuniques, sondern wir beteiligen uns auch an Prozessen, mobilisieren Anwälte, besuchen die Inhaftierten im Gefängnis und machen andere Aktionen wie Solidaritätsveranstaltungen. Oft werden wir für Mahnwachen angefragt. Auch ohne Anfrage werden wir selbst aktiv, wenn wir ein Unrecht erkennen. Zum Beispiel haben wir eine Mahnwache bei einem Prozess veranstaltet, der gegen die Universität (Bogazici) Istanbul geführt wurde. Wir haben sehr viele Berufskollegen, die verhaftet sind, es sind wirklich sehr viele. Das Justizministerium ist nicht in der Lage, uns die genaue Zahl der momentan inhaftierten Anwälte zu nennen. Es gibt auch sehr viele Anwälte, die nicht inhaftiert sind, aber gegen die fünf oder sechs Verfahren laufen. Das ist eine andere Repressionstaktik.

Welche Anwält·innen sind in erster Linie von diesen Massnahmen betroffen? Es werden in erster Linie Anwälte inhaftiert oder angezeigt, die in politischen Prozessen Mandate führen.

Wie beginnt ein Verfahren gegen einen Anwalt oder eine Anwältin? Wer macht die Anzeige? Wenn eine Mahnwache stattfindet, werden die Anwälte, die sich beteiligen, von den Sicherheitskräften angezeigt. Manchmal wird die Staatsanwaltschaft selbst tätig. Manchmal ist es auch eine Drittperson, es sind dann aber meistens Leute, die vom Sicherheitsapparat instruiert werden. Ihre Identität wird dann geheim gehalten. Die Zeugen werden ebenfalls vom Sicherheitsapparat organisiert. Auch ihre Identität wird nicht immer bekannt gemacht.

Aufgrund welcher Vorwürfe muss ein Anwalt oder eine Anwältin ins Gefängnis? In erster Linie wird den Anwälten vorgeworfen, Mitglied einer illegalen Organisation zu sein. Wenn man keine Beweise dafür hat, dann ist der Vorwurf, man betreibe Propaganda für diese Organisation. Oder irgendeine Aussage, die der Betroffene gemacht hat, wird so umgedreht, dass ein Anti-Terror-Verfahren eröffnet wird. Es ist nicht so wichtig, was der Betroffene konkret gemacht hat. Es wird nicht eine Straftat aufgedeckt, sondern eine Straftat konstruiert. Zum Beispiel wird die Teilnahme eines Anwaltes an einer bestimmten Beerdigung als terroristische Aktion gewertet, oder die Farbe seiner Kleidung als Symbol für die Unterstützung einer verbotenen Organisation qualifiziert.

Wenn ich das richtig verstehe, kann es genügen, dass ein Anwalt oder eine Anwältin ein Mandat in einem Anti-Terror-Prozess übernimmt, damit er oder sie inhaftiert werden kann. Ja, genau. Ein Anwalt, der eine solche Person verteidigt, wird selbst angeklagt. Die Anwälte werden daran gehindert, solche Personen gegenüber der Justiz zu verteidigen. Gegen diese Anwälte wird ein Verfahren eröffnet. Dies führt dazu, dass dieser Anwalt seinen Mandanten nicht mehr verteidigen darf. Mit diesem Trick werden Anwälte, die politische Prozesse führen, ins Abseits gestellt. Ich gebe ein Beispiel von mir. Ich wurde angeklagt, den Präsidenten der Republik beleidigt zu haben. Ich habe aber nie seinen Namen zitiert. Es wurde aber trotzdem ein Verfahren gegen mich eröffnet. Ich möchte betonen, dass momentan in der Türkei nichts mit den Normen der Verfassung und mit den Gesetzen konform ist. Staatsanwälte sind Befehlsempfänger der Regierung. Die Richter sind ihre Vollstrecker.

Ausserhalb dieser Strafverfahren werden auch andere Mittel gegen die Anwält·innen eingesetzt? In diesem Land werden Anwälte vom Justizministerium und sogar vom Präsidenten selbst direkt bedroht. Wir sind keine funktionierende Demokratie. Nicht nur im Justizbereich, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft und bei allen Ämtern herrscht Willkür.

Wie sind die Haftbedingungen der Anwält·innen. Sind diese auch in den F-Typ-Zellen inhaftiert? Ja, viele Anwälte sind in F-Typ-Gefängnissen, d. h. in sogenannten Hochsicherheitsgefängnissen inhaftiert, weil es politische Prozesse sind. Diese Haftanstalten sind nicht zeitgemäss. Ich bin der Präsident der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer. Wir haben die Haftbedingungen untersucht, und diese sind prekär. Gegen die Häftlinge werden aus nichtigem Anlass, wenn diese z.B. laut singen oder gegen die Türe klopfen, strengste Disziplinarmassnahmen ergriffen.

Wie hat sich die Repression gegen die Anwält·innen in letzter Zeit entwickelt. Ist sie gleich geblieben oder schlimmer geworden? Parallel zur steigenden gesellschaftlichen Repression sind auch Anwälte immer stärker von Unterdrückung betroffen. Sonst werden auch nicht-regierungshörige Intellektuelle zunehmend Repressionen ausgesetzt. Sogar die Präsidentin der Ärztekammer wurde verhaftet und war viereinhalb Monate im Gefängnis.

Neben den Inhaftierungen gibt es auch andere Massnahmen gegen Anwält·innen wie Berufsverbote, Ausschlüsse aus Prozessen etc.? Wenn ein Anwalt zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt wurde, zieht das ein Berufsverbot nach sich. (…) Von der Anwaltskammer selber gab es bis jetzt noch keine Berufsverbote. Wie können wir im Ausland in dieser Situation helfen? Dass diese internationale Delegation hier ist, bedeutet bereits eine grosse Hilfe. Es gibt eine grosse Solidarität von Anwälten aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und anderen Ländern, und nicht nur beim Prozess gegen Pinar Selek. Internationale Anwälte haben auch an Mahnwachen teilgenommen. Jede Unterstützung aus dem Ausland ist für uns sehr wertvoll. Ich verfasse übrigens zurzeit ein Buch über die Geschichte der Mahnwachen in der Türkei.

Herr Aytac, ich bedanke mich für dieses Gespräch.

Istanbul, 30.9.2023

  1. Als «Justice Watch» bezeichnet

  2. Die Samstagsmütter fordern auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul seit über 28 Jahren Aufklärung über ihre in staatlichem Gewahrsam verschwundenen Angehörigen. Es ist die am längsten andauernde Aktion des zivilen Ungehorsams in der Türkei. Sie war mehrere Jahre lang verboten, konnte aber kürzlich wieder stattfinden.

  3. Junge kurdische Aufständische errichteten im Herbst 2015 Barrikaden und erklärten die Altstadt von Diyarbakir zur «Autonomen Zone». Die türkische Armee schoss aus Helikoptern und Panzern in die Gassen. Mehrere hundert Menschen wurden getötet. Ein Teil der verwinkelten Altstadt wurde in der Folge abgerissen.